Wir gingen nach draußen. Die Stadt hatte ihren Rhythmus beibehalten. Die Hunde lagen lässig im Park, die Tauben hüpften um die Mülleimer, im Café spielten alle Backgammon oder Okey. Wir folgten unserer gewohnten Route. Etwas hatte sich jedoch verändert. Es schien, als ob die Luft nicht mehr dieselbe war. Eine gewisse Anspannung war spürbar. Wir schlängelten uns durch die kleinen Gassen von Sultanahmet nach Eminönü. In der Ferne übertönten sich die Möwen mit den Sirenen der Feuerwehr und Polizei. Auf den Fernsehern in allen Cafés liefen Bilder von dem explodierten Bus. Die Leute schauten und schüttelten ihre Köpfe. Die Stadt hatte sich verändert. Es war ein inneres Gefühl, das wir anfangs nicht erklären konnten.
Wir erreichten den Platz. Überall war Polizei. Die Straße zum Universität war von den Spezialeinheiten blockiert. Maskierte Männer mit Gewehren schauten streng. Der Staat zeigte seine Stärke und Macht. Er wollte sagen: Es ist nichts passiert. Geht einfach weiter. Aber das war nicht ganz so, und wir alle – Einheimische, Gäste und Touristen in Istanbul – wussten es. Wir kamen zur Galata-Brücke bei Eminönü. Auch hier hatten die Spezialeinheiten einen beträchtlichen Teil ihrer Kräfte stationiert. Elif griff schnell nach ihrer Kamera und wollte ein Foto machen. Sie hatte das Objektiv gerade auf einen Jungen in Uniform, mit Maske und großem Gewehr gerichtet, als eine Hand sie ruckartig packte und die Kamera nach unten drückte.
- Abla, bitte nicht fotografieren. Zeigen Sie mir, dass Sie das Bild gelöscht haben, andernfalls muss ich Ihr Gerät konfiszieren.
Elif, die sich normalerweise nicht so leicht einschüchtern ließ, erkannte diesmal, dass die Dinge nicht mehr wie früher waren. Der Mann war sehr bestimmt, sprach mit klarem und scharfem Ton. Hinter ihm stiegen noch einige maskierte Polizisten aus dem Wagen. Es gab keine Wahl.
- Tamam Abi, tamam. Sakınti yok. – antwortete sie schnell.
Sie löschte das Bild und zeigte ihm das Display ihrer Kamera. Der Mann nickte diplomatisch und trat zurück. Die Jungs hinter ihm gingen zurück ins Auto. Wir schauten uns an. Von unserem unbeschwerten Istanbul war nun keine Spur mehr zu finden. Damals ahnte niemand, dass dies nur der Anfang eines blutigen Jahres voller politischer und militärischer Ereignisse sein würde. Wir hatten beschlossen, unser Abenteuer trotz allem fortzusetzen. Angst ist ein Gefühl, das sich langsam und tief in einem festsetzt. Es lag an uns, ob wir Opfer davon werden oder uns mutig ihm widersetzen. Wir fühlten uns Istanbul nahe. Es hatte uns zusammengebracht, uns seine Schönheit und seinen Rhythmus erleben lassen, uns an sich herangelassen. Doch heute blutete es, hatte einen Teil seiner Wächter verloren. Wir fühlten uns verbunden mit seinem Schicksal.
Wir gingen in das nahe Café und bestellten Tee und Baklava. Im Fernsehen liefen die Nachrichten. 11 Tote und 36 Verletzte. Die Explosion war durch eine Autobombe auf dem Beyazid-Platz ausgelöst worden, die detonierte, als ein Bus mit Polizisten vorbeifuhr. Es folgten Aufnahmen vom verbrannten Bus, Krankenwagen und Berichte von Augenzeugen. Alles sah aus wie in einem Film. Nur, dass wir heute in diesem Film auch mitmachten.
Wir tranken langsam unseren Tee und schauten uns an. Die gute Laune war vergangen. Elif kam aus einem kleinen idyllischen Dorf im Schwarzwald, und ich aus einer großen, aber relativ ruhigen Stadt. Wir waren nie so nah am Terrorismus und dem Tod unschuldiger Menschen gewesen. Ich schaute nach vorne. Istanbul war in Blau und Rot getaucht von den Reflexen der Sirenen der Dutzenden Autos, Motorräder und Busse der verschiedenen Spezialeinheiten, die hin und her fuhren. Dort, wo gestern ein alter Mann Bagels verkaufte, lagen jetzt Sandsäcke, Stacheldraht und militärische Ausrüstung.
Würden wir gehen oder bleiben? Ich hatte das Gefühl, dass genau jetzt diese Stadt jeden brauchte, der sie wirklich liebte. Dutzende Flugzeuge nahmen panische Touristen mit, Reservierungen wurden storniert, Taxis fuhren zum Flughafen. Aber ich liebte Istanbul. Es hatte mir alles gegeben, um das ich es nur eine Woche zuvor gebeten hatte. Heute musste ich ihm etwas zurückgeben. Doch ich trug auch die ganze Verantwortung, seine Tochter zu schützen. Ich trank meinen Tee aus, aß das letzte Stück Baklava und schaute Elif an. Es schien, als ob sie noch auf meine Entscheidung wartete.
- Du musst nicht mit mir bleiben, ich könnte nach Deutschland zurückfliegen, und du nach Sofia. Alles könnte heute und jetzt enden. So als wäre es nie gewesen. In drei Stunden könnten wir jeder in unserem Bett aufwachen, weit weg von diesem Horror hier. Aber du entscheidest. Wie du sagst. Ich bin bei dir. Ich zünde mir meine letzte Zigarette an, bitte entscheide, was wir tun, während ich sie rauche.
Ein Rauchwölkchen verhüllte ihr Gesicht, sie zog langsam an ihrer Zigarette. Ich schaute mal zu ihr, mal auf das Wasser des Goldenen Horns. Auf der anderen Straßenseite hielten mehrere Motorräder an. Die Jungs stiegen ab. Sie stellten sich nebeneinander auf. In ihren Händen hielten sie ihre Gewehre fest. Ihre Gesichter waren hinter schwarzen Masken verborgen. Sie waren straff, fit, junge Männer nicht älter als 30 Jahre. Sie schauten mich an. Es waren fast keine Touristen mehr in der Stadt. Ich rief den Kellner und bat um die Rechnung.
Hesap lütfen, die Rechnung bitte.
Tamam, Efendi. – Der Junge drehte sich flink um und brachte ein kleines Heftchen mit einer Notiz darin.
Ich legte einige Banknoten hinein und stellte es auf den Tisch. Ich starrte in den Aschenbecher. Elif drückte ihre Zigarette aus. Die Zeit war abgelaufen. Jetzt oder nie. Wenn wir jetzt aufstehen, muss ich entscheiden, ob wir zum Hotel gehen, um unser Gepäck zu packen, oder ob wir unseren gewohnten Spaziergang über den Großen Basar und die kleinen Gassen von Sultanahmet fortsetzen. Ich drehte mich zu den Jungs mit den Gewehren um. Ich schaute ihnen in die Augen unter ihren schwarzen Masken. Heute Morgen, als sie zur Arbeit gingen, würden 11 ihrer Kollegen nicht mehr nach Hause kommen. Dutzende Familien hatten diesen Anruf erhalten, den niemand bekommen möchte, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter Polizist sind. Nur wenige Stunden später waren jedoch andere Söhne Istanbuls in Uniform gegangen, hatten ihre Mütter und Frauen erzählt, dass sie heute Dienst hätten. Jetzt standen sie hier, unter der heißen Sommersonne, und schützten mich, während ich meinen Tee mit meiner Geliebten trank. Sie hatten sich dem Terror nicht gebeugt, wie hunderte ihrer Brüder und Schwestern. Würde ich das tun? Würde ich mich ergeben?
Ich nahm Elif bei der Hand und wir standen auf. Ich schaute die Polizisten an. Wir nickten uns zu. Ich drehte mich zu Elif und sagte:
Willst du mit mir über die Brücke spazieren? Ich werde Istanbul nicht verlassen. Du entscheidest, wie du willst.
Ich habe gesagt, wenn du bleibst, bleibe ich auch.
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Es war der Kellner.
- İyi günler, Abi. Viel Glück. Der Imam begann sein Nachmittagsgebet zu singen.
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