Der Bombenanschlag - 12tes Kapitel

Wir lagen nachlässig im Bett, als das Telefon klingelte und uns erschreckte. Draußen war es schon lange hell. Durch den Spalt der Vorhänge drang das Licht. Draußen herrschte Lärm, aber diesmal war etwas anders. Im Halbschlaf hob Elif das Telefon ab.

  • Tante, es war Niliş, deine Nichte. Verlasst schnell Istanbul! Steigt in das erste Flugzeug. Es ist schon gefährlich für euch dort.

  • Was, wie, warum? Unser Urlaub hat doch gerade erst begonnen... was ist los...!?

  • Tante, schaltet die Nachrichten ein und bucht Tickets für Deutschland. - schrie sie in den Hoerer und legte danach auf.

Elif legte ihr Telefon auf das Kissen und sah mich an. Ich hatte noch keinen blassen Schimmer, worum es ging. Zögerlich zog ich den Vorhang zur Seite und blickte vom Balkon aus in den Park. Dort waren, wie üblich, viele Menschen, die miteinander redeten. Es lag etwas in der Luft, aber ich konnte noch nicht genau sagen, was es war. Elif warf sich genervt auf das Bett, das Licht von draußen störte sie. Sie griff widerwillig zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Aus dem Lärm draußen konnte ich immer klarer die Sirenen von Feuerwehr, Polizei und Rettungswagen hören. Irgendwie waren sie mehr als üblich. Die Anspannung in mir stieg.

Mit offizieller Stimme berichtete die Nachrichtensprecherin von einem Anschlag auf einen Polizeibus. Sieben Polizisten, vier Zivilisten waren getötet worden, und mehr als vierzig waren verletzt. Gott sei Dank hatte ich solche Nachrichten bisher nur im Fernsehen gehört, aber diesmal war es direkt bei uns passiert. Die dumpfe Explosion am Morgen, die wir gehört hatten, war keine Gasflasche oder ein Unfall. Nur ein paar Straßen von uns entfernt kamen an diesem Tag elf Menschen nicht mehr ans Ziel, und weitere vierzig würden ihr Leben nicht mehr so fortsetzen können wie bisher.

Elif schlüpfte aus den Bettlaken und sah mich an. Ihre Augen stellten mir nur eine Frage. Was tun wir? Gestern hatten wir noch Kaffee an dem Ort getrunken, an dem heute die Leichen unschuldiger Menschen lagen, zerstückelt von der teuflischen Maschine, die in einem Auto neben uns versteckt war. Schon oft musste ich Entscheidungen für mich treffen, an vielen Orten auf der Welt. Aber damals war ich nur für meinen eigenen Hintern verantwortlich. Konnte ich heute aufstehen, meinen Kaffee trinken, Elif an die Hand nehmen und mit ihr nach draußen gehen? Konnte ich die Verantwortung übernehmen, dass heute eine Mutter von zwei Kindern, die in Deutschland auf sie warten, lebendig und gesund in ihr Hotelzimmer zurückkehren würde? Wer war ich, dass ich diese Schicksale entscheiden sollte? Ich wollte doch nur ein bisschen Spaß im Sommer am Meer. Das Heulen der Sirenen draußen wurde immer lauter. Die Sonne brannte gnadenlos. Die Luft war durchzogen von einem widerlichen und ekelhaften Geruch nach verbranntem. Ich stand am Balkon und beobachtete die Menge. Mütter mit Kindern spielten im Park, Großväter warfen ihre Würfel und stritten sich beim Backgammon, die Hunde lagen überall herum. Die Polizei füllte die Straße. Männer mit Maschinengewehren auf Motorrädern standen an jeder Ecke des kleinen Platzes. Ich stützte mich auf das Geländer der Terrasse und starrte nach vorne. Ich wollte, dass mir etwas sagte, was ich tun sollte. Jemand, der mir die Antwort gab. Wenn es bisher eine unsichtbare Kraft gegeben hatte, die mich hierher geführt hatte, dann war es jetzt nur noch ich. Diesmal musste ich mich selbst erheben und mich dem Angstgesicht stellen.

Neben mir auf dem Tisch hatte Elif die App geöffnet und unsere Namen für den nächsten Flug nach Deutschland eingegeben. Ihr Finger lag auf dem Button - „Bezahlen“. Ein Klick, und in zwei Stunden wären wir auf dem Alexanderplatz in Berlin. Sie rauchte und sah mich an. Sie musste mir nicht sagen, was sie mich fragen wollte. Aber hatte ich eine Antwort? Was bedeutete ein „Ja“, hier und jetzt, am 7. Juni 2016 in Istanbul? Wir waren erst fünf Tage zusammen. Vor nur fünf Tagen hatte ich mich mit ihr getroffen, vor zwei Tagen hatte ich ihr gesagt, dass ich mit ihr alt werden wollte. Und heute musste ich dieses „Ja“ sagen. Einige Menschen sagten es in Anzügen, mit einem Glas Champagner, vor Zeugen. Ich musste mein „Ja“ heute sagen, vor dem gesamten Platz, der mit Polizei voll war. Ich musste sagen: „Ja, ich werde dich beschützen und lebendig zu deinen Kindern zurückbringen.“ Ich, der nur Flip-Flops und zwei T-Shirts hatte, in einer Stadt mit zwanzig Millionen Menschen, einer Stadt, in der ich erst vor einer Woche zum ersten Mal war. Eine Stadt, in der niemand wusste, dass ich existiere. Ich setzte mich auf den Stuhl und lehnte mich zurück. Eine Taube landete auf der Terrasse. Wenigstens würde ich einen Zeugen für diese außergewöhnliche Zeremonie haben.

Der Imam begann sein Gebet. Aus allen Ecken der Stadt ertönte seine Stimme. Die Musik stoppte, die Menschen beruhigten sich. Es gibt etwas sehr Mächtiges und Magisches in dieser Stimme. Ich starrte auf die Möwen, die über uns flogen, drehte mich zu Elif, sah sie an und sagte nur:

  • Elif, wir bleiben hier und jetzt. Das ist es, was sie von uns allen wollen, sie wollen unsere Freiheit und erpressen uns mit unserer Angst.

Sie sah mich lange an, mit diesem Blick, der dir sagt, dass das Leben ab jetzt nicht mehr dasselbe sein wird. Das sind die Sekunden, in denen du spürst, wie du erwachsen wirst. Du weißt, dass jeder Schritt ab heute anders sein wird, die Angst würde uns folgen, aber wir mussten den anderen genau das Gegenteil zeigen. Wir haben keine Angst, denn die Liebe wird immer die Angst und das Böse besiegen.

Sie stornierten die Tickets, legte das Telefon auf den Tisch und sagte:

  • Zieh dich an, wir gehen raus!

Die Taube, die neben uns gelandet war, flog beiläufig davon.


Zum Gedenken an alle Opfer des Anschlags am 7. Juni 2016. Ein Jahr, das eines der dunkelsten und blutigsten in der Geschichte der Republik Türkei war.

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