Auf dem Weg zum Treffen - die U-Bahn und der Taksim-Platz

Auf dem Weg zum Treffen - die U-Bahn und der Taksim-Platz

 Ich habe mein Zimmer nie wieder verlassen. Ich musste eine Entscheidung treffen. Sich weiterhin an die Regeln zu halten oder alles beim Alten zu lassen und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Aber ich war zu weit gegangen. Ich war entschlossen, das Ganze zu Ende zu bringen, was ich begonnen hatte. Meine Intuition sagte mir, ich sollte weitermachen.

Es war der 2. Juni. Ungefähr 12 Uhr. Irgendwo in Bulgarien heulten Sirenen in Erinnerung an diejenigen, die im Kampf für die Befreiung unseres Volkes vom osmanischen Joch starben. Etwa 120 Jahre später war ich erneut in Gefangenschaft geraten. Freiwillig. Aber irgendwie gefiel es mir. Ich wusste, dass Liebe keine Hautfarbe, Religion, Alter und sogar Geschlecht kennt. Allerdings auch Dummheit. Ich fragte mich, ob ich dumm oder verliebt war. Beides!

Ich lag wie gelähmt auf dem Bett, der Laptop lag neben mir. Ich fühlte mich wie eine Maus in der Falle. Ich war wütend, aber auch euphorisch. Es gab keine Neuigkeiten. Das Flugzeug von Elif war bereits in Karlsruhe gestartet. Der Ball war in meinem Spielfeld. Ich musste mich nur entscheiden, ob ich ihn spielen oder zurückgeben würde.

***

Der Flughafen Sabiha Gökce liegt auf der asiatischen Seite der Türkei. Es ist der kleinere der beiden Flughäfen in der Türkei. Um dorthin zu gelangen, muss man einen Bus vom Taksim-Platz nehmen und die Stadt direkt durchqueren, dann die Brücke über den Bosporus überqueren und auf der anderen Seite, irgendwo dort, musste Elif nach etwa circa 3 Stunden landen.

12.00. - 4 Stunden vor dem Treffen

Ich verließ mein Zimmer und ging zur U-Bahn Station Yeni Kapi. Von dort musste ich zum Taksim-Platz und nach HAVA BUS, dem Flughafenbus, suchen. Es war nach Mittag und ich hatte immer noch nichts in den Mund genommen. Von den Mädchen, die ich am Tag zuvor gesehen hatte, war nichts zu sehen. Ein junger Mann saß am Eingang der U-Bahn und verkaufte geschnittene Wassermelonen. Die Sonne brannte heiß, und beim Anblick der rosa Frucht konnte ich nicht widerstehen und wollte mir unbedingt ein Stueck holen. Der junge Mann verlangte von mir 5 Lira für eine Scheibe Wassermelone. 1,50 Euro für ein paar Häppchen erschienen mir zu teuer und ich fing an zu handeln. Ich sagte 3Lira er 4 Lira, am Ende haben wir uns nicht geeinigt. Ich war nicht nur wütend, sondern blieb hungrig und durstig. Ein nicht so guter Start in den Tag, aber ich behielt meine Ehre, die in den letzten Tagen sicherlich eine ziemliche Prüfung durchgemacht hatte. 

12.15 - 3.30 Uhr vor dem Treffen

Das Handeln um die Wassermelone hat mir ungefähr 10 Minuten gekostet und ich verpasste die U-Bahn nach Taksim. Ich schwitzte, hatte Hunger, und ich kam mir vor wie in diesen Filmen, wo der Held einen Countdown hat, bevor irgendwo in der Stadt eine Bombe hochgeht, und ein Terrorist ihn einfach alle 2 Stunden anruft und ihm neue Anweisungen gibt. Die Spannung wuchs. Die Zeit ist ein Feind in einer so riesigen Stadt wie Istanbul.

12.30 Uhr Ich stand auf dem Gleis und wippte nervös mit den Füßen. Endlich kam mein Zug und ich sprang hinein. Um mich herum war es voller Leute, die in Anzügen zur Arbeit fuhren, und ziemlich viele Schüler, die von der Schule zurückkamen. Ich war mit langen blonden Haaren, sonnenverbrannt in Antalya und in Flip-Flops. Alle sahen mich an und dachten, ich hätte den Shuttlebus zum Strand mit der U-Bahn in Istanbul verwechselt. Das habe ich mir auch gedacht, stand trotzdem stolz und hielte mich an einem Ring direkt vor der Tür, schaute auf den Linienplan und tat so, als haette ich mein ganzes Leben lang nur das getan. Es war etwa 15-20 Minuten Fahrt zum Taksim. Die Zeit hatte bereits begonnen, auf mich zu drücken. Um 13.00 Uhr musste ich den Bus zum Flughafen schaffen. Laut meiner Karte, etwa 10 Gehminuten von der U-Bahn entfernt, hätte ich die Haltestelle finden sollen. Alles lief nach Plan. aber das war mein Plan. Istanbul hatte seinen eigenen. Ich sollte bald wieder lernen, dass die Spielregeln in dieser Stadt anders waren und sie nicht bestimmen durfte.

12.50 Uhr

Ich sprang aus meinem Waggon und versuchte zu rennen. Versuchen Sie es nicht! Die U-Bahnstation war voller Menschen und die einzige Möglichkeit, sich fortzubewegen, bestand darin, dass wir alle es wie eine Armee auf einer Parade gemeinsam tun. Istanbul ist eine Stadt mit eigenem Rhythmus. Er schluckt dich und legt dich auf Knie. Man muss atmen, sich bewegen und das tun, was diese Stadt einem erlaubt. Es begann mir klar zu werden, dass ich entweder Teil dieses Organismus werden musste oder er mich abstossen würde. Ich hatte mich bereits der Liebe ergeben, jetzt ergab ich mich einer Stadt. Ich fühlte mich schwach und verwirrt. Ich ging wie hypnotisiert mit der Menge. Plötzlich stand ein ganzes Orchester vor mir und spielte türkische Liebesballaden. Ich setzte mich vor ihnen auf die Treppe und began die Musik zu geniessen. Ich brauchte ein paar Minuten Ruhe, und etwas, was mir Glauben und Vertrauen in mir selbst in diesem Bienennest gibt. Etwas, was mir sagt, ob ich auf dem richtigen Weg war. Der Lärm der Tausenden von Menschen erstarb vor der Romantik der Musik. Ich konnte die Menschen nicht mehr sehen, ich konnte die Züge nicht mehr hören, die Sängerin starrte mir direkt in die Augen und sang. Sie wollte mir etwas sagen, eine Botschaft rueberbringen, was ich damals woertlich nicht verstand. Sie sang nicht nur, sie sah mir direkt in die Augen und redete mit mir. Ein Lied, zweites Lied, drittes Lied. Sie guckte direkt auf mich und hörte nicht auf. Das Orchester erhöhte nur den Rhythmus. Ich konnte spüren, wie die Kraft anfing, in mich einzudringen. Einen Moment lang gab es außer ihr und mir keine anderen Menschen. Die Welt bestand von uns zwei, als ob jemand mit einer Radiergummi die 20 Millionen Menschen um uns wegwischte. So müssen sich die Athleten fühlen, wenn die Menge bis zum letzten Atemzug nicht aufhört, sie zu unterstützen, bis sie wieder auf die Beine kommen und weiterkaempfen. Ich hatte das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Ich wollte aufstehen und kaempfen. Und das alles hätte wie ein türkisches Liebesdrama geendet, wenn ich in diesem Moment nicht einen stumpfen Schlag auf den Kopf bekommen hätte.

 ***

Ein Opa hatte mich in der Ecke der Treppe sitzend uebersehen, war über mich gestolpert und samt mehreren Einkaufstüten direkt auf mich geflogen. Ich saß in der Ecke des U-Bahn-Treppenhauses in der Nähe von Taksim, hielt einen türkischen Opa auf meinem Schoß, und um uns herum lagen Kashkaval, Käse und Oliven verstreut. Das Orchester hatte aufgehört zu spielen, und von Romantik war nichts mehr zu spüren. Wir standen beide auf, ich half ihm, seine Sachen vom Boden aufzuheben und rannte zum Ausgang. Ich war entschlossener denn je. Das Bild der Sängerin aus der U-Bahn stand immer noch vor meinen Augen, die Musik klang in meinen Ohren und Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum, dass ich Istanbul erobern werde und das bekommen könnte, wofür ich gekommen bin – Elif.

Taksim...

Taksim ist ein ziemlich großer Platz im europäischen Teil von Istanbul. Es ist die politische Arena vieler bedeutender Ereignisse in der jüngeren Geschichte der modernen Türkei. Heute war ich genau im Zentrum dieser Arena. Ich weiß nicht, was es an diesem Tag geben sollte, aber um mich herum waren mindestens 500 Polizisten. Sie standen alle mit Helmen und Schilden hinter Metallzäunen und sahen mir direkt in die Augen. Ich war von überall umzingelt. Ich fühlte mich wie ein Gladiator im alten Rom. Ich habe nur darauf gewartet, dass die Löwen von irgendwo auf mich freigelassen werden. Auf dem Platz war keine Menschenseele zu sehen. Ich musste diese Absperrung irgendwie durchbrechen, um zum Flughafenbus (Hava Bus) zu gelangen. Ein weiteres Hindernis. In der muslimischen Welt gibt es eine alte Tradition, dass dem Bräutigam, wenn er sich auf den Weg zur Braut macht, Hindernisse vor sein Auto gestellt werden. Das fängt bei den Kleinsten an, die ihre Räder vors Auto schmeißen und Geld vom Bräutigam erbetteln bis hin zu ganzen Lastwagen, die den Weg der Prozession versperren, und der zukünftige Bräutigam kauft die Braut von diejenigen, die ihm den Weg sperren, ab. Heute hatte Elifs Mutter die ganze Polizeiwache von Istanbul geschickt, um ihre Tochter vor mir zu retten. Offensichtlich konnte man sie nicht mit Geld kaufen, also entschied ich mich, es mit Charme, türkische Sprache und Gebärdensprache zu versuchen. Ich ging auf einen Herrn zu, der seinen Helm abgenommen hatte, um zu rauchen. Ich stellte mich vor ihm hin und fing an zu reden und mit Armen zu winken. Ich sagte Bus, Sabiha Gökçe, dann breitete ich die Arme aus und fing an, nach links und rechts zu schwanken, als wäre ich ein Flugzeug. Der Mann sah mich an und bewegte sich nicht mal. Das motivierte mich noch mehr, also sagte ich „Pilot“ und fing an, mit meinem Mund zu summen und noch heftiger mit meinen Armen zu wedeln. Die Aussicht muss interessant gewesen sein. 2. Juni, Hitze, der riesige Platz Taksim, Metalzaeunen, 500 Polizisten und ich Zarko in der Mitte, der behauptet, ein Pilot zu sein, sich im Kreis dreht und mit den Armen wedelt. Eine Hand riss mich aus meiner Trance. Jemand hatte mich an der Schulter gepackt. Der schnauzbärtige Polizist lachte und sprach etwas in seinem Radio. In der Ferne öffnete sich die Hintertür eines Polizeilastwagens und zwei weitere, noch besser ausgerüstete Polizeibeamte kamen auf mich zu. „Yok, yok“, fing ich an zu schreien und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. Meine Schulter war taub, es waren keine anderen Menschen in der Nähe und zwei gut gebaute voll ausgeruestete tuerkische Polizisten kamen auf mich zu. Seine Kollegen kamen zu mir und anstatt mir  Handschellen anzulegen und mitzunhemen, was ich verstehen wuerde, sagten in sehr gebrochenem Englisch, dass sie nicht aus Istanbul kommen und nicht wüssten, wo dieser Flughafenbus - HAVA BUS ist. Sie wiesen auf den nahe gelegenen Duner hin und schickten mich dorthin, um nachzufragen. Mein schnauzbärtiger Freund ließ mich los, lächelte und wünschte mir „Kasmet Abi (viel Glueck auf Tuerkisch, mein Grosser Bruder)“. 

Ich bedankte mich und rannte zu der Doenerbude. Mein Magen war leer, die Sonne prallte von oben und in dem Moment wo ich die saftigen Fleischspiesse sah war mir klar... ich werde mir ein Doener holen. Ich bestellte mir einen mit frisch gepressten Orangensaft und setzte mich drinnen unter der Klimaanlage. Die frische Luft blaeste mir direkt ins Gesicht, ich fuehlte mich ein Boxer, der gerade auf dem Boden lag und der Trainer mit einem Tuch ueber ihm stand und mit dem Tuch weddelte.

Ein netter Herr bediente mich an meinem Tisch. Ein Glas Saft und ein fetter Doener -  genau das Richtige. Hinter seinem Kopf sah ich plotzlich die Uhr. 13.00 Uhr. Der Bus musste gerade losfahren. Ich stand auf und schrie einfach Hava Bus. Die Leute drehten sich und dachten und habe nicht alle Tassen im Schrank. Der Ladenbesitzer kam zu mir und starrte mir. Hava Bus, schrie ich ihm noch mal ins Gesicht. Sabiha Goekce. Der grosse Mann, sagte Tamam ( Tuerkisch fuer Ok), seine zwei Haende nahmen mein Glas Orangensaft und meinen Donerteller, schuettelten den Saft aus dem Glas in einen Plastikbecher um, so dass ich meinen Saft mitnehmen kann, packten so schnell wie es ging meine Doenerportion in eine Plastikbox, drueckte mir alles in die Hand, dreht sich und rief. Mustafa, cabuk,  gell. Mustafa komm schnell. Der Doenermann liess sein Doenermesser fallen, drehte sich um, packte mich an die Hand und rannte mit mir auf den Platz. Der musste mich zum Bus persoenlich bringen. Kaum machten wir ein Paar Schritte und ich sah den Bus wie er hinter der Kurve, direkt neben mir drehte und verschwand. Ich stuertzte auf den Boden, die Tuete mit dem Essen fiel neben mir. So nah an meinem Ziel war ich die letzten drei Tage nicht.

Naechste Folge

Fortgesetzt werden


 

 

 

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