Bosporus
Mustafa half mir auf. Ich nahm die Tüte mit Essen mit. Er nahm meine Hand zu sich, wir überquerten den Taksim-Platz und fanden die Bushaltestelle. Der nächste Bus wartete schon. Um ihn herum dösten Touristen aus aller Welt auf ihren Taschen. Ich war der einzige ohne Gepäck. Es war bereits 13:30 Uhr, der Bus sollte in etwa einer halben Stunde abfahren. Wenn wir pünktlich abfahren und den Zeitplan eingehielten, hätte ich laut Plan gegen 15:30 Uhr am Flughafen sein müssen. Obwohl ich von meinen Emotionen überwältigt war, hatte ich Option B gelassen. Die Frage war, ob es funktionieren würde. Ich verabschiedete mich von Mustafa, er lächelte mich an, sagte „Kasmet - Viel Glück“ und ging zu seinem Geschaeft zurueck. Ich saß auf einer Bank und genoss mein Mittagessen. Bisher war es eine unsichtbare Hand gewesen, die mich vorwärts bewegt und mich am Rand des Abgrunds entlang geführt hatte. Der Junge, der mir keine Wassermelone verkauft hat und ich meine Zeit nicht verschwendet habe, die Sängerin, die für mich gesungen hat, der Opa, der in mich reingefallen ist und mich gezwungen hat, aufzustehen und weiterzumachen, die Polizisten auf dem Platz, die mich nicht weggesperrt haben, der Donerverkaeufer, der meinen Saft in Plastikbecher umschuetet hat und seinen Sohn mit mir zum Bus geschickt hat. Irgendeine Kraft stellte mich vor Huerden und gerade als ich aufgeben wollte, drängte sie mich vorwärts. Würde er mich auf der Ziellinie zurücklassen? Würde ich Elif nur wegen etwa 15 Minuten dämlicher Verkehrsstau verpassen und nie weider sehen? Ich konnte nichts mehr tun. Ich aß mein Essen auf, warf den Müll in einen Mülleimer in der Nähe und stieg in den Bus.
***
"Fünfzig Lira". Eine Stimme weckte mich. Ich saß ganz hinten, auf den letzten Plätzen am Fenster, und war eingenickt. Neben mir saßen arabische Touristen, und der Fahrer, über uns gestreckt verkaufte Tickets, bevor wir abfuhren. Es war 13.55. Ich reichte ihm den braunen 50-Lira-Schein mit Atatürk drauf, nahm das Ticket und entspannte mich. Ich sah ihm in die Augen und wollte ihm nur eines sagen. "Mensch, es liegt alles in deiner Hand. Entweder wir schaffen es zusammen oder ich komme mit leeren Händen zurück und alles von der letzten Woche war umsonst. Tu es einfach!".
Menschen haben die Sprachen erfunden, um miteinander zu kommunizieren. Aber wie verstehen sich Tiere und Fische, wie verstehen sich Pflanzen? Zwischen lebenden Organismen findet Kommunikation auf vielen Ebenen statt. Ich konnte in diesem Moment keine Sprache, um ihm zu sagen, was ich dachte und was ich wollte. Ich sah ihm direkt in die Augen und versuchte ihm meine Gedanken zu übermitteln. Es schien mir, als ob er mich zumindest für einen Moment länger ansah und mich zu verstehen schien. Er nickte mir zu, nahm den Schein, drehte sich um, setzte sich wieder auf den Fahrersitz, schloss die Tür, hupte und das Rennen begann. Ich dachte an den Film „Speed“ mit Sandra Bullock und Keanu Reeves, wo der Bus nicht unter 80 km/h fahren durfte, sonst könnte die Bombe des Terroristen darin explodieren. So fühlte ich mich auch. Alles oder nichts! Würde diese unsichtbare Hand, die mich seit drei Tagen am Rand des Abgrunds entlangführt, in dem ich von meinem gemuetlichen Hotel in Antalya zu meinem Sitzplatz im Bus gefahren bin, würde sie mich in den Abgrund stoßen oder mich durch das Labyrinth führen und wie Indiana Jones werde ich den Kampf gewinnen. Ich war dabei, es herauszufinden! Ich war im grossen Finale!
***
Wir fuhren durch die Stadt. Wunderschöne Sehenswürdigkeiten reihten sich an mir vorbei - die Schiffen vom Bosporus, kleine und ordentliche Villas, Kindern, die von der Schule nach Hause kamen und kämpften, Bagelverkäufern, Krankenwagen, die vorbeiflogen. Die Welt drehte sich nicht um mich. 20 Millionen Menschen wie ich waren an diesem Tag in dieser Stadt aufgewacht und hatten sich mit ihren Hoffnungen auf den Weg gemacht. Aber was hielt das Schicksal für jeden von uns bereit? Wer hat die Spielregeln gemacht? Eines wusste ich bereits mit Sicherheit – ich war es nicht.
Nach etwa zwanzig Minuten verließ der Bus die Stadt und der Bosporus stand mit seiner majestätischen Brücke vor mir. Dieser
kleine Wasserstreifen, für den in den letzten 2000 Jahren Zehntausende
bei ihrem Streben nach der Kontrolle über dieses Land gestorben sind. Dieser
Wasserstreifen, der nicht nur zwei Kontinente trennt, sondern zwei
ganze Welten - Europa und Asien mit ihren Religionen, Kulturen,
Geschichten, Traditionen. Wer war ich, dass ich dachte, ich könnte ihn einfach so ueberquerren? Ich wollte diese Welt jedoch nicht erobern, ich wollte, dass sie mir die Möglichkeit gibt, sie zu genießen. Würde sie mir die Gnade und Ehre geben?
Der Bus hielt. Vor uns, soweit wir sehen konnten, war voller Autos. Es näherte sich drei Uhr und wir traten allmählich in die Rush Hour ein. Ich sah an mir herunter. Ich saß am Fenster und blickte direkt ins Wasser des Schwarzen Meeres. Riesige Tanker, kleine Boote, Yachten fuhren unter mir hindurch, vor mir war ein kilometerlanger Stau, und neben mir schlief ein Paar arabischer Herkunft. Ich schaute auf mein altes Handy, diese alte kleine Modelle mit der Taschenlampe. 15.00 Uhr. In diesem Moment landete Elifs Flugzeug nur etwa 20 Kilometer von mir entfernt. Ich wollte ihr nur eine kurze Nachricht am Telefon schreiben, aber ich kannte nicht einmal ihre Nummer, wir hatten uns im sozialen Netzwerk über unsere Profile verabredet. Ich hatte kein Smartphone. Ich wollte nur fuenf Worte schreiben und senden! Fuenf Worte: "Warte auf mich! Ich komme!" Ich war schweissgebadet. Ich warf ein schnelles Blick auf das Smartphone des Jungen neben mir. Es lag vor mir auf dem Tisch. Mein Plan war, während er schlief, würde ich mich an seinem Handz einloggen, eine Nachricht senden, mich ausloggen und so tun, als wäre nichts passiert. Ich stupste das Display mit meinem Finger an, es leuchtete auf und beleuchtete mich mit einem vollen Bildschirm aus arabischen Schriftzeichen. Verdammt. Die haben keine Tastatur mir lateinischen Buchstaben. Wie soll ich da mein Message eintippen. Unmoeglich. Der Plan scheiterte.
15:30 Uhr
In der Ferne über dem Fahrer leuchtete die Uhr mit den roten Zahlen. 15:28, 15:29, die Punkte blinkten und zählten meine Zeit herunter. Plötzlich drehten sich die Zahlen und es kam auf 15.30 Uhr. Sie kennen diese Filme, bei denen man sich fragt, ob die Bombe hochgeht, wenn der Timer abgelaufen ist oder nicht. Na ja, nichts ist explodiert, außer vielleicht mein Herz. Ich lehnte mich zurück. Ich war bereit aufzugeben. In diesem Moment musste Elif laut Vereinbarung mit ihrem Koffer aus dem Flughafen gehen, sich nach mir umsehen und sich eine Zigarette anzünden. Wenn ich nicht bis 16 Uhr auftauchte, würde sie ihren Kaffee austrinken, ihre Zigarette loeschen, noch einmal nach links und einmal nach rechts schauen, und wenn sie mich nicht sieht den Koffer mit dem Fuß schieben und für den nächsten Flug einchecken. Ich hatte eine halbe Stunde, um den Bosporus zu überqueren, zum Terminal zu gelangen und sie zu finden.
Wer bereit ist zu verlieren, gewinnt. Ich sah Kuz Kulesi (der Maedchentrum) aus dem Fenster an. Der
Legende nach schloss der Sultan seine Tochter ein, weil ihm
vorhergesagt wurde, dass eine giftige Schlange sie beißen würde, bevor
sie volljährig wäre. Dort verbrachte sie viele Jahre. An ihrem 18. Geburtstag schickte ihr Vater ihr einen Obstkorb, aus dem eine Schlange kroch und das Mädchen tödlich biss.
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